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Hör- und Sehstücke
Inklusive Medienarbeit – „Ich hätte nicht gedacht, dass man für eine Aufnahme so viele Sachen braucht!“
Das inklusive Projekt „Hör- und Sehstücke – Inklusive Medienprojekte“ will Schülerinnen und Schüler mit und ohne Handicap zu gestaltender Mediennutzung anregen. Mit dem Projekt richtet sich die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (LKJ) an Förder- und Sonderschulen sowie Inklusionsklassen in ganz Baden-Württemberg. Wir haben den Medienpädagogen Oliver Koll bei der Produktion eines „Sehstücks“ in der Johannes-Wagner-Schule in Nürtingen begleitet. Beim Interview waren auch Klassenlehrerin Annika Plum und Medienpädagogin Natasha Blickle anwesend.
Mit was für einer Klasse wird heute das Projekt durchgeführt?
Annika Plum: Es ist eine siebte Hauptschulklasse mit 14 Schülerinnen und Schülern zwischen 13 und 15 Jahren mit einer Hörbehinderung. In der Klasse verfügen viele der Schülerinnen und Schüler über ein Cochlea-Implantat, das man sich wie ein implantiertes Hörgerät vorstellen muss. Der Lehrer spricht dann in ein Headset und seine Stimme wird auf dieses Hörgerät übertragen.
Welche Herausforderungen bringt so eine Klasse mit sich?
Oliver Koll: Bei der Vorbereitung zu diesem Workshop hat mir die Klassenlehrerin geraten, dass ich beim Erklären viel visualisieren und wenn möglich anhand von Beispielen erklären soll. Wichtige Informationen sollten immer an die Tafel geschrieben werden. Dann muss ich laut und deutlich sprechen. Es hilft auch, dass die Schülerinnen und Schüler ständig meinen Mund sehen können. Sie verstehen mich dann besser.
Wie war Ihr erster Eindruck?
Oliver Koll: Mit einem Mikrofon zu reden, war am Anfang etwas ungewohnt. Ich kam mir vor, als würde ich einen Vortrag halten. Wenn man aber ohne das Headset-Mikro spricht, dann hört keiner zu. Nach der Pause „wuselt“ es meistens im Klassenzimmer. Wenn man dann das Mikrofon anschaltet und reinspricht, wird es auf einmal still im Raum. Die Schülerinnen und Schüler sind auf dieses Hilfsmittel angewiesen. Ich war erstaunt wie gut die Konversation über das Mikrofonsystem funktioniert hat. Die Schüler konnten mich dadurch verstehen und mir so aufmerksam folgen.
Praxisnahes Thema: Hörschädigung im Beruf
Welches Thema haben sich die Schülerinnen und Schüler für die Videoproduktion ausgesucht?
Oliver Koll: Das Thema der Produktion heißt „Hörschädigung im Beruf“. Wir wollen Menschen mit Handicaps bei der Arbeit zeigen. Heute haben wir deshalb in der Mensa Aufnahmen von einer Mitarbeiterin gemacht. Danach haben wir sie interviewt und gefragt, welche Hilfsmittel sie als Gehörlose im Beruf benutzt.
Wir seid ihr auf das Thema „Hörschädigung im Beruf“ gekommen?
Klassenlehrerin Annika Plum: Wir haben im Vorfeld nach einem praxisnahen Thema gesucht und sind bei „Hörschädigung“ gelandet. Daraufhin haben wir die Schülerinnen und Schüler Ideen sammeln lassen, daraus entstand das Thema „Beruf“. Diese Kombination war sehr praktisch: zum einen sind sie selber von dem Thema betroffen, zum anderen findet man hier an der Schule die Interviewpartner, weil hier viele Hörgeschädigte arbeiten.
Wie läuft eine Videoproduktion normalerweise ab?
Oliver Koll: Die „Hör- und Sehstücke“ dauern in der Regel drei Tage. Die ersten zwei Tage sind wir nur mit Übungen und Vorbereitungen beschäftigt. Man kann bei Kindern mit Handicap nicht einfach loslegen und ihnen eine Kamera in die Hand drücken. Wir steigen langsam ein, z. B. indem wir am ersten Tag zu dritt mit Aufnahmegeräten kleine Interviews führen. Damit sich jeder auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren kann, teilen wir anschließend die Kinder in drei verschiedene Gruppen auf: Redaktion, Organisation und Aufnahmetechnik. Die Gruppe „Aufnahmetechnik“ lernt z. B. die Einstellungsgrößen beim Bild kennen oder wie man für einen guten Ton sorgt. Die Redaktion lernt verschiedene Fragetypen kennen und probt Interviewsituationen. Um das alles zu üben, vergehen ganz schnell mal zwei Tage.
Aktive Medienarbeit führt zu Teamarbeit.
Wie funktioniert das Teamwork zwischen den Kindern?
Oliver Koll: Ich betone eigentlich immer, dass Teamwork bei der Aufnahme ganz wichtig ist. Durch die Aufgabenverteilung wird das eigentlich nochmals klar. Sie sind dazu gezwungen miteinander zu kommunizieren. Z. B. muss derjenige der die Kamera bedient, sich immer bei demjenigen vergewissern, der sich um den Ton kümmert, ob der Ton gut zu hören ist. Der Reporter oder die Reporterin muss seine Kollegen fragen, ob er oder sie zu hören ist und ob er oder sie zu sehen ist. Aktive Medienarbeit führt eigentlich automatisch zu Teamarbeit.
Wie läuft denn der Prozess nach der Aufnahme?
Oliver Koll: Gerne schneide ich das Material zuhause, weil ich das Schnittprogramm Premiere oder Avid einsetzen kann. Mit den Schülerinnen und Schülern sichten wir am Ende das ganze Material und entscheiden, was verwendet werden soll. Dann müssen sie die Aufnahmen beschriften und in eine grobe Reihenfolge bringen.
Kameras, Stative und Kopfhörer: wenn Technik begeistert
Welche Technik hattet ihr heute im Einsatz?
Oliver Koll: Von der LKJ hatten wir heute drei digitale Spiegelreflex-Kameras von Nikon plus Stative dabei. Dann haben wir zwei aktive Mikrofone von Rode und zwei Tonangeln mitgebracht. Für den Schnitt sind zwei Laptops im Einsatz, als Schnittprogramm ist Magix installiert.
Sorgt die Technik für einen „Wow-Effekt“ bei den Kindern?
Oliver Koll: Das kann man so sagen. Dadurch, dass man sich langsam an die Materie herantastet, kommt es immer wieder zu „Wow-Effekten“. Bereits am Anfang sind die Kinder beeindruckt, wenn sie mit dem Aufnahmegerät und den großen Kopfhörern üben dürfen. Wenn sie dann am nächsten Tag das Stativ und die Kamera in die Hände bekommen, sind sie richtig begeistert.
Und welche medienpädagogischen Lernerfolge gab es am ersten Tag?
Oliver Koll: Die Kinder merken, dass eine Aufnahme auch mal Stress bedeutet oder dass eine Aufnahme länger dauern kann. Dann kommen Kommentare wie „Ich hätte gar nicht gedacht, dass man für eine Aufnahme so viele Sachen braucht!“
Bei Medienprojekten ist Unterstützung von außen willkommen
Frau Plum, wie kommt denn das Projekt bei den Schülerinnen und Schülern an?
Klassenlehrerin Annika Plum: Das kommt sehr gut an. Die waren schon im Vorfeld ganz aufgeregt, dass wir überhaupt so etwas machen. Das Projekt war für sie eine tolle Gelegenheit sich mit dem Thema „Hörschädigung“ auseinanderzusetzen. Und es hat auch für Abwechslung gesorgt: nicht nur im Klassenzimmer rumzusitzen, sondern auch mal durch die Schule laufen und etwas Praktisches machen.
Was passiert mit der fertigen Reportage, wird die noch aufgeführt?
Klassenlehrerin Annika Plum: Wir wollen die Reportage im Sommer auf dem Schulfest vorführen. Die Schule verfügt über einen Youtube-Kanal. Da wollen wir das Ergebnis hochladen.
Könnten Sie sich nach dem heutigen Tag noch weitere Medienprojekte vorstellen?
Klassenlehrerin Annika Plum: Ich war schon bei einer anderen Schule an einem Radioprojekt beteiligt, was auch sehr spannend war. Wenn man sich als Lehrer nicht mit der Technik auskennt, traut man sich auch nicht an solche Projekte ran. Mit Unterstützung von außen ist das natürlich viel einfacher.
Wäre die Durchführung eines solchen Projektes auch ohne Hilfe der LKJ möglich?
Klassenlehrerin Annika Plum: Grundsätzlich schon. Für uns ist es aber einfacher, wenn wir von außen unterstützt werden. So müssen wir uns nicht um die Technik kümmern. Und was die Bedienung betrifft, sind die Kollegen von der LKJ deutlich professioneller.
Das inklusive Projekt „Hör- und Sehstücke – Inklusive Medienprojekte“ hat übrigens im Herbst 2015 bei der Preisverleihung des IdeeBW-Kreativpreises Fördermittel in Höhe von 20.000 Euro erhalten. Mehr zum Thema „Filmproduktion an der Schule“ finden Sie auf den Seiten von MediaCulture-Online.